Anmerkungen zur Herkunft, Genealogie und Geschichte der
Andechser- Heinz Wember
Gleichwohl
die mit der eben abgeschlossenen Zusammenfassung endende Untersuchung
keine Geschichte der Andechser im eigentlichen Sinne war und vor dem
Hintergrund ihrer Zielsetzung dies auch gar nicht sein konnte und
sollte, ergaben sich einige Aspekte vor allem zur früheren
Geschichte
dieses Hauses, die in der Literatur bisher nicht vertreten worden
waren. Um diese, die im vorangegangenen Text eher verstreut und in den
verschiedensten Zusammenhängen erscheinen, dem Leser, der an
der
engeren Geschichte des Hauses Andechs interessiert ist,
zugänglich zu
machen, sollen auf den folgenden Seiten diese Aspekte noch einmal
zusammengefaßt werden.
Es ging, dies sei noch einmal betont, in der vorliegenden Arbeit nicht
um die Bedeutung und die Größe des Hauses Andechs,
das als Grafen von
Andechs und Wolfratshausen, von Vornbach, von Kulmbach, im Nori- und im
Pustertal, im Inntal über eine scheinbar
unübersehbare Machtfülle in
Süddeutschland verfügte, dessen Mitglieder die
Bischofsstühle von
Bamberg und Aquileia besetzen konnten; das als Pfalzgrafen von Burgund,
Markgrafen von Istrien und Herzöge von Meranien zu den
europäischen
Hochadelsfamilien zählen sollte, dessen Töchter als
Königinnen zu
Stammüttern großer Geschlechter werden sollten; eine
Familie, die mit
der Person der heiligen Hedwig in den Heiligenkalender der Kirche
eingehen sollte, und eine Familie, der man unbesehen den zeitweisen
Vorrang vor den Wittelsbachern einräumte, die fraglos deren
bedeutendster Gegenspieler war, von deren Schicksal zum nicht geringen
Teil das Schicksal des Herzogtums Bayern abhing. Diese summarische
Aufzählung mag wohl genügen, um die Bedeutung des
Hauses aus der
Sicht der Adelsgeschichtsforschung hinreichend herauszuheben; sie
steht ihrer Bedeutung als Paradebeispiel und Modellfall für
die
Entwicklung der hochmittelalterlichen Grafschaft, wie eindeutig
nachgewiesen werden konnte, in nichts nach.
Das Jahr 1180, das
wir bei den nachfolgenden Betrachtungen des Werdens der andechsischen
Grafschaften aus mehreren Gründen als Endpunkt gesetzt haben,
ist
zugleich das Jahr des Höhepunktes der Familiengeschichte; zu
den
Grafschaften und Besitzungen, die im Laufe von nicht einmal
zweiJahrhunderten erworben worden waren, der Grafschaft
Andechs-Wolfratshausen und der Grafschaft Vornbach-Neuburg, waren die
Grafschaft in Franken, die tirolischen Grafschaften, die
Markgrafschaft Istrien und Besitzungen in Krain getreten. Eine
Nebenlinie, deren Verbindungen zum Stammhaus immer
noch lebendig war und zur rechten Zeit auch noch aktiviert
werden sollten, hielt in der Grafschaft Wasserburg zum Teil noch eine
der beiden alten Ausgangs- bastionen der Familie, in ihrer
ursprünglichen Form allerdings etwas verändert,
andererseits aber auch
stark erweitert in eine Region, die der Familie um 1000 noch
verschlossen gewesen war, sowie in Viechtenstein eine weitere
Grafschaft östlich des Inns. Die burgundische Pfalzgrafschaft
und
schließlich die in eben- diesem Jahre 1180 verliehene
Würde eines
Herzogs von Meranien waren letzt- lich die Krönung eines
Aufstieges,
der zu diesem Zeitpunkt in Bayern nur noch von dem der Grafen von
Scheyern- Wittelsbach überstrahlt wird, die in dem- selben
Jahr die
bayerische Herzogswürde errangen. Überstrahlt
deswegen, weil die
Wittelsbacher erst einige Jahrzehnte später diesen Weg
angetreten hat-
ten und dabei eine weniger gute Ausgangsposition besaßen als
die
späteren Andechser, die immerhin bereits im Jahre 1000 mehrere
Komitate
innehatten und ohne Frage zu den ersten Familien des Reichsadels
zählten.
Wenn auch damit unter den bayerischen Großen des hohen
Mittelalters
fraglos endgültig an die zweite Stelle getreten, bleibt doch
dieser
Aufstieg für ein bayerisches Dynastengeschlecht, das vor 1150
außerhalb des Herzogtums wohl vereinzelt Besitzungen, aber
niemals
Herrschaftsrechte besessen hatte, bemerkenswert und unter diesen mit
Ausnahme der Wittelsbacher unerreicht. Es gibt außer den
Nachfahren des
Grafen Friedrich von Haching kein einziges Geschlecht in Bayern, von
dem behauptet werden kann, daß es im Jahre 1000 und im Jahre
1200
gleichermaßen zu den Großen, den
Größten des Landes gezählt werden
muß,
darin übertreffen sie auch die Wittelsbacher; dies ist umso
bemerkenswerter, als diese zweihundert Jahre, in denen sie stets ein
gewichtiger Faktor der Geschichte gewesen sind, in denen nie ihre
Stellung auch nur in Frage stand, eine Zeit eines
verfassungsgeschichtlichen Umschwunges und Umbruchs gewesen sind, wie
Bayern sie seit dem Jahre 788 nicht mehr erlebt hatte, der vielleicht
die Veränderungen des Jahres 788, die weitaus mehr die oberste
Ebene
der Verfassung des Landes und seine Grenzen betrafen als die innere
Struktur, in den Schatten stellt.
Wir haben das Werden der Andechsischen Macht des ausgehenden
Hochmittelalters auf dem Boden des bayerischen Herzogtums, soweit sie
im
Zusammenhang mit diesem verfassungsgeschichtlichen Umbruch stand, in
den einzelnen Regionen der Andechsischen Machtentfaltung betrachtet.
Es gilt nun, wenigstens in einem Überblick diese Entfaltung,
den
Aufstieg einer Familie, noch einmal zu betrachten. Es geht uns dabei
nicht um eine erneute Auseinandersetzung mit der Genealogie dieses
Hauses, allenfalls nur insofern, als sie im Zusammenhang mit der
Entfaltung der politischen Macht,des Hauses erforderlich ist. Diese
hat als erklärtes Ziel dieser Untersuchung auch in diesem
Anhang im
Mittelpunkt zu stehen.
Für ein Haus von solcher, nicht erst auf dem
Höhepunkt seiner
Entfaltung, sondern schon zur Jahrtausendwende weit über
Bayern
hinausreichender Bedeutung wie das Haus Andechs, ist die Literatur von
erstaunlich geringem Umfang. Die meisten neueren Beiträge zur
Geschichte der Andechser finden sich verstreut und zuweilen geradezu
versteckt in Arbeiten zu anderen Themen, wobei zumeist die Geschichte
der letzten gewaltsamen Auseinandersetzung mit den Wittelsbachern um
die Vorherrschaft im Herzogtum im Vordergrund steht. Wiederholt
galten Bemühungen der Genealogie des Hauses, was angesichts
deren
weitverzweigter Beziehungen, und zwar bereits von den ersten
zweifelsfrei belegten Vertretern der Familie an, verständlich
ist.
Den Genealogien, die die gesamte Geschichte des Hauses erfassen, ist
sämtlich eine durch die schlechte Quellenlage problematische
Darstellung der Frühgeschichte des Hauses gemeinsam;
hinsichtlich
der
genealogischen Fragen des 12. und 13.Jahrhunderts bestehen hingegen
kaum mehr wesentliche Differenzen. Die ungeklärten
Verhältnisse des
zehnten und elften Jahrhunderts und die daraus resultierenden
unterschiedlichen Theorien haben auch erhebliche Konsequenzen
für
die
Betrachtung der frühen Geschichte des Hauses nach sich
gezogen.
Nur
allzuoft wurden in einem vermeintlichen oder tatsächlichen
genealogischen Konnex die Erklärung aller Rätsel
gesehen; die
Überbewertung der tatsächlichen oder frei
konstruierten
familiären
Zusammenhänge hat dabei auch häufig den Blick auf die
politischen, vor
allem aber die politisch-administrativen Gegebenheiten und ihre Rolle
für die Geschichte des Hauses verstellt, oder aber, noch
schlimmer, bei
einer nicht auf den ersten Blick erkennbaren Ursache für ein
bestimmtes
Phänomen, zu einer zuweilen geradezu fixierten Suche nach den
genealogischen Beziehungen geführt, die dieses
Phänomen
erklären
sollten. Zuweilen gelang jedoch auch eine Klärung von
Problemen,
die
über die unmittelbar genealogische Fragestellung hinausgehen,
durch die
Erkenntnis familiärer Zusammenhänge; speziell zur
Frühgeschichte des
Hauses Andechs hat unlängst Hlawitschka durch die Aufhellung
familiärer
Bindungen einige bedeutende Aspekte, vor allem zu den bereits
frühzeitig sehr weitreichenden Familienbeziehungen und damit
die
hohe
Stellung des Hauses schon um die Jahrtausendwende erarbeiten
können.
Die Geschichte der Grafen von Andechs hat bis heute eine einzige
umfassende Bearbeitung erfahren. Diese immer noch in vielen Punkten
maßgebliche Arbeit von Edmund v. Oefele ist im Wesentlichen
eine
Kompilation der Quellen und Belegstellen zur Geschichte dieses Hauses,
die Oefele kommentiert und ausgewertet hat. Modernen
Ansprüchen
genügt sie freilich längst nicht mehr. Das
gegenwärtige
wissenschaftliche Interesse richtet sich nicht mehr auf die faktische
Machtfülle der Andechser auf dem Höhepunkt ihrer
Geschichte und auf
ihren tragischen Niedergang, auf ihr schließlich, nach dem
eigentlich
längst sinnlos gewordenen letzten Aufbäumen, das in
einem in ihrer
Geschichte einzig dastehenden Verlassen der kaiserlichen Partei
gipfelte, fast leises Erlöschen; auch hier gibt es
zugegebenermaßen
noch manche Frage zu klären. In das Blickfeld der Forschung
kommen
sie indessen derzeit weit eher durch das Rätsel, das ihre
Wurzeln, die
Grundlagen ihres Aufstiegs umhüllt.
Die Frage nach der Herkunft Die immer wieder gestellte
Frage nach der
Herkunft der Andechser, soviel sei vorneweg festgestellt,
können wir
nicht endgültig klären; wir kommen bei unseren
Untersuchungen noch
nicht einmal so weit wie Flohrschütz bei den Ebersbergern. Als
Ähnlichkeiten und Parallelen aber können wir immerhin
feststellen, daß
sie bei ihrem ersten Auftreten in der Person des Grafen Friedrich von
Haching, bzw. seiner Verwandten Arnold und Meginhard bereits eine
Generation vor ihm, zusammen mit den Ebersbergern zu einer Schicht des
Reichsadels gehörten, die mehr oder weniger unmittelbar unter
den
Königen eine zwar nicht rechtlich abgegrenzte, sozial aber
deutlich von
den anderen Freien geschiedene erste gesellschaftliche Gruppe des
Reiches bildete. Aus dieser Gruppe kamen die Herzöge in den
einzelnen Herzogtümern des Reiches, sofern diese nicht direkt
von den
Angehörigen des Königshauses gestellt wurden, und
Vertreter dieser
Gruppe besetzten auch die Bischofsstühle, die nicht von engen
Verwandten des Königs besetzt wurden.
Die Bedeutung dieser Gruppe drückt sich jedoch auch in
ebendieser
Verwandtschaft aus. Nicht anders als für die Ebersberger oder
die
Kühbacher lassen sich schon um die Jahrtausendwende
genealogische
Verbindungen für die späteren Andechser zu den ersten
Familien des
Reiches nachweisen; Friedrich von Haching war einer der zahlreichen
Verwandten und Verschwägerten Kunos von
Öhningen, wie Hlawitschka eindrucksvoll nachweisen
konnte. Dieser Kuno von Öhningen ist jedoch niemand anderer
als Herzog
Konrad von Schwaben; die oberbayerischen Grafen Friedrich, Arnolt
und Meginhard besitzen also zu einem so bedeutenden Vertreter des Adels
familiäreBeziehungen, und damit in der weiteren Folge
zu den sächsischen Königen, zu den Welfen und
Saliern, und sind
demzufolge schließlich mit den Staufern verwandt. Sie waren
demnach bei
ihrem ersten quellenmäßigen Auftreten im letzten
Viertel des
zehnten Jahrhunderts keine Aufsteiger mehr, waren es mit einiger
Sicherheit in dem Sinne, in dem wir im hohen Mittelalter solche
reichlich unter den Bayerischen Grafen finden konnten, niemals; sie
gehörten zu jenem Reichsadel, dem vermutlich die Grafen der
ottonischen Zeit allesamt zuzurechnen sind, dem diese aus
Gründen, die
am Anfang unserer Untersuchungen erläutert wurden, bereits
seit der
Karolingerzeit wohl überwiegend, wenn nicht
ausschließlich, entnommen
wurden. Im Gegensatz zu den Grafen des hohen Mittelalters war die
Zugehörigkeit zu dieser "königsnahen" Gruppe
für ihre Stellung als Graf
entscheidende Voraussetzung; die Übernahme des Grafenamtes war
für
sie auch kein Aufstieg, sondern eher eine ihresgleichen angemessene -
und wechselseitig nur durch ihresgleichen wirksam auszuübende
-
Beschäftigung.
Über diese ebenso klar erkennbare wie zum Zeitpunkt ihres
ersten
Auftretens in den Quellen für ihre Stellung notwendige soziale
Zugehörigkeit zu einer königsnahen
Bevölkerungsschicht hinaus ist ihre
Herkunft allerdings nicht zu ermitteln; Versuche, sie mit dem
frühmittelalterlichen bayerischen Hochadel in Verbindung zu
bringen,
wie dieser in den bekannten fünf genealogiae der
lex baiwariorum uns
entgegentritt, sind völlig unhaltbar. Selbst wenn
Übereinstimmungen mit den Besitzräumen einer dieser
fünf
genealogiae -
wie sie ohnehin nur für zwei der fünf nachweisbar
sind - feststellbar
wären, wäre damit kaum etwas zu beweisen. Der
königsnahe Adel des
neunten und zehnten Jahrhunderts, der höhere Adel des
Mittelalters
überhaupt zeichnet
sich gerade durch eine bemerkenswerte lokale Mobilität aus.
Wenn wir
das Beispiel der Ebersberger betrachten, wo wir diese
Kontinuität viel
genauer erkennen können, so müssen wir feststellen,
daß eine solche
lediglich infolge von Einheiraten in lokale Adelsfamilien - von
durchaus hohem Rang - zustandekam, die Familie der Ebersberger selbst
war um 900 völlig landesfremd gewesen. Dasselbe, also eine
Verpflanzung
nach Bayern durch eine königliche Schen kung oder ein
entsprechendes Lehen, eine nachfolgende
Ausweitung der Basis durch Heiratsverbindungen mit dem einheimischen
Adel kann letztlich für die Andechser ebenso gelten; zu
beweisen ist es
in konkreto so wenig wie das Gegenteil, denn
natürlich ist es
ebenso gut möglich, daß die Andechser
ursprünglich in Bayern
beheimatet waren, mithin also von einer reichen Familie des
agilolfingischen Bayern abstammen. Weitere Möglichkeiten
können
angesichts ihrer Stellung beim frühesten Auftreten in den
Quellen als
ausgeschlossen betrachtet werden. In beiden Fällen ist es
jedoch nicht
erwiesen, daß ihre Heimat, sei es nun seit dem sechsten oder
erst
seit dem neunten Jahrhundert, an der Isar oder am Inn gewesen ein
muß;
die Mobilität der Adelsfamilien des Mittelalters zeigt sich
immer
wieder durch den Wechsel von Schwerpunkten innerhalb engerer Regionen.
Es gibt jedoch Spuren, die auf die früheste bayerische Heimat
der
Andechser, seien sie nun genuin bayerischen Ursprunges oder nur hierher
verpflanzt, schließen lassen. Einige Erkenntnisse, die wir
gewonnen
haben, könnten auf eine frühe Besitzbasis am Inn,
also um Wasserburg,
hinweisen, noch genauer gesagt, auf den östlich des Inns
gelegenen Teil
der späteren Grafschaft Wasserburg. Denn hier finden wir noch
im
zwölften Jahrhundert Besitzungen in der Hand der
Dießen-Andechser
Linie, die nicht aus den verschiedenen Erbfällen der
Wasserburger
stammen können, sondern bereits vor der Teilung in die Linie
Dießen und
die hallgräfliche Linie erworben worden sein müssen.
Die Dießener Linie
behielt sich, als der Dießener und der Wasserburger Besitz,
vermutlich
nach dem Tode des Grafen Arnolt kurz vor 1100, geteilt wurde,
diesen Besitz offensichtlich vor, warum auch immer. In diesem
Zusammenhang wird die Gründung des Klosters Attel erneut
interessant,
das wir wohl als älter einstufen müssen, als
gemeinhin angenommen
wurde. Hier und nicht im Hachinger Komitat, nicht an der Mangfall und
auch
nicht nördlich des Ammer- und Würmsees
besaß die Familie, der wohl die
Arnolte und Meginharte sowie Friedrich von Haching, vor 1027 auch der
Graf in dieser Gegend, angehörten, einen derart geschlossenen
Besitzraum, daß die Gründung eines Familienklosters
möglich war. Daß
es dies nicht blieb, lag wohl an seinem Niedergang infolge der
Ausplünderung des Klosters durch Friedrich Rocho, bei der
Wiedergründung durch den Grafen Engelbert wurde es
schließlich allein
das Familienkloster des Wasserburger Zweiges, aber inzwischen hatte die
Dießener Linie ja auch ihren eigenen geistigen Mittelpunkt in
Dießen
geschaffen. Lag somit hier am Inn der Ausgangspunkt der Familie?
Beweisen können wir dies damit genausowenig. Ein
frühes Zentrum ihrer
Macht am Inn ist damit wohl nachgewiesen, aber ebenso wie sich um
Dießen ein Machtzentrum und mit der Gründung des
Klosters auch das
geistige Zentrum der Familie auf einem Boden entwickelte, der ihr
noch ein Jahrhundert zuvor gar nicht gehört hatte, kann sich
das
ebenfalls am Inn so abgespielt haben; man könnte
allenfalls noch mit möglicherweise
aufzufindenen Namenparalitäten operieren, womit wir aber im
günstigsten
Fall bisherigen unbewiesenen Spekulationen neue unbeweisbare
Spekulationen an
die Seite stellen könnten. Es sei noch einmal darauf
hingewiesen, daß sie hier
zwar möglichen frühe Besitzbasis hatten, die sich
auch auf die Gebiete
östlich erstreckte; die Machtposition
beschränkte sich jedoch
auf den Komitat des Inns. Zu besagen hat dies freilich nichts,
Besitzraum und Amt eines Grafen der alten Komitatsverfassung decken
sich, wie in der Forschung mehrfach festgestellt, fast nie
völlig miteinander.
Es gibt jedoch auch noch weitere Besitzräume der
Familie, deren Herkunft verborgen ist. Dies gilt zunächst
für einen großen
Teil ihrer Besitzungen in Tirol. Mit die ältesten Schenkungen
von Vertretern
der Familie sind ausgerechnet in Tärzins in Tirol
nachgewiesen, und für die
Besitzungen im Inntal immerhin so umfangreich gewesen sein
müssen, daß Graf
Otto, der Vater des Grafen Otto von Wolfratshausen und dieser selbst
sich
zuweilen nach ihrer dort gelegenen Burg Amras nannten, haben wir keinen
Erwerbsnachweis, ja nicht einmal einen Ansatzpunkt für einen
zeitlichen Ansatz
des Erwerbs. Und schließlich sind auch die Besitzungen im
Hachinger und im
Gilchinger Komitat als die früheste Besitzschicht der Familie
zumindest in
Erwägung zu ziehen. Diese allerdings sind nicht
überwiegend Rodungen wie die
Besitzunhgen anderer, ursprünglich nicht in Bayern
beheimateter, aber
um 1000 längst gesessen zu betrachtender Familien wie etwa der
Ebersberger, sondern zu einem großen Teil Siedlungen aus der
ältesten Schicht
der bayerischen Siedlungsgeschichte. Eine Parallele zu den
Ebersbergern, die
immerhin Schlüsse auf eine "Einpflanzung" der
späteren Andechser in Bayern
schließen ließe, besteht in dieser Hinsicht
offensichtlich nicht, was aber einen
ähnlichen Vorgang wie bei den Ebersbergernkeineswegs
ausschließen kann.
Als sicher können wir jedoch festhalten: In Bayern
waren die Andechser im zehnten Jahrhundert wohl heimisch; wie lange sie
dies zu diesem Zeitpunkt bereits waren, läßt sich
nicht feststellen.
Die Spur in
den südallemannischen Raum, die sich durch die Verbindung mit
dem
schwäbischen
Herzogshaus scheinbar ergibt, ist jedoch, wie Hlawitschka nachgewiesen
hat, für die Herkunft der Andechser nicht relevant. Auch der
Nachweis
eine
Abstammung von derselben Wurzel mit dem staufischen Haus ist nicht
schlüssig zu
erbringen, gleichwohl ein solcher versucht wurde.
Wir müssen uns also mit dem begnügen, was wir wissen:
Die Familie, aus der die Grafen von Andechs hervorgehen sollten,
gehörte um die
Jahrtausendwende zum bedeutendsten Reichsadel, lebte im Connubium mit
der ersten Schicht des Reiches, gehörte verwandtschaftlich und
wohl auch darüberhinaus zum Umkreis der Könige und
war mit eine der
bedeutendsten Familien in Bayern. Bemerkenswert daran ist,
daß sie dies
zwei Jahrhunderte später immer noch taten, in einer
völlig veränderten
Zeit und auf völlig anderen Grundlagen -
und dies macht sie, dies kann ruhig betont werden, in der bayerischen
Geschichte des hohen Mittelalters zu einer in ihrer Art einzigen
Erscheinung.
Die Entfaltung der Familie
In den vorangegangenen Untersuchungen war stets von Friedrich von
Haching als dem Stammvater der Andechser die Rede, oder, um den
Terminus "Andechser" zu vermeiden, wenn von Vorgängen vor 1100
die
Rede war, von den Nachkommen des Grafen Friedrich, da dieser Name ja
erst nach diesem Datum in Gebrauch kam. Dies ist insofern richtig,
als es keine Frage geben kann, daß die späteren
Grafen, die Dießener,
die Andechser, die Wolfratshausener und die Wasserburger in der Tat
sämtlich von diesem Friedrich abstammen müssen. Wir
haben zwei Söhne
dieses Friedrich urkundlich nachgewiesen, zum einen Otto, zum
anderen Berthold; beide nennen sich kurz nach der Mitte des elften
Jahrhunderts bereits nach der Burg Dießen. Otto von Thanning,
von
dem wohl mit einiger Sicherheit die Linie Amras/Wolfratshausen
abzuleiten ist, scheint hingegen ein Sohn des Grafen Berthold gewesen
zu sein; wir haben eine derartige Filiation, die wir nicht anders
einordnen können, in den Freisinger Traditionen belegt. Die
ersten
Generationen der Familie, die wir im späteren elften und
zwölften
Jahrhundert dann ziemlich exakt kennen, sind somit
einigermaßen
gesichert.
Ungeachtet seiner gesicherten Stammvaterschaft für die
Andechser ist
Friedrich von Haching nichtsdestoweniger höchstwahrscheinlich
nicht der
älteste uns bekannte Vertreter der Familie; davon gingen auch
Oefele,
und Tyroller mit sehr unterschiedlichen Auffassungen aus. Oefele
setzt einen unbekannten Stammvater voraus und erkennt richtig die enge
Verbindung zwischen Friedrich von Haching und dem Grafen Arnolt, hat
aber nicht den Mut, die Konsequenz zu ziehen und Meginhart den
Älteren, in dessen Komitat Götting liegt, als den von
ihm mit N
gekennzeichneten Vater der beiden anzunehmen, obwohl kaum eine
Alternative zu diesem Schluß bleibt. Der Sohn Meginharts
namens Arnolt,
von dem der Benediktbeurer Epitaph berichtet, der Schenker von
Tärzins, kann unmöglich der Graf Arnolt von
Dießen sein, da dieser erst nach der Entstehung des Breviarium
Gotschalki belegt
ist. Ein weiteres Problem ergibt sich für Oefele aus der
Zurechnung
Rassos zu den Andechsern; wie oben festgestellt werden mußte,
ist
jedoch die Zugehörigkeit Rassos von Dießen zum
Mannesstamm der
Andechser nicht unbedingt vorauszusetzen. Tyroller leitet die ganze
Dynastie der Andechser von den Luitpoldingern her; diese Vorstellung
muß aus verschiedenen Gründen in Frage gestellt
werden, in der Sache
ist beiden Autoren indessen zuzustimmen: mit höchster
Wahrscheinlichkeit kann die Präsenz der Familie in Oberbayern
wenigstens ein
halbes Jahrhundert vor Friedrich von Haching, vermutlich aber sogar
schon sehr viel eher, angenommen werden.
Diesen ältesten uns bekannten Vertreter haben wir wohl nach
allem, was
wir erkennen konnten, in dem Grafen Arnolt zu sehen, der schon in der
zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts im Gilchinger Komitat
als
zuständiger Graf nachgewiesen ist. Wenig später, noch
im zehnten
Jahrhundert, begegnet uns auch jener Graf Meginhart im Komitat an der
Mangfall, von dem die Linie schließlich zumindest
erschlossenerweise
weitergeführt werden kann zu Meginhart von Reichersbeuern und
vielleicht auch noch Graf Meginhart von Gilching; dazwischen ist noch
jener Graf Arnolt zu sehen, in dessen Komitat 1017 Aufkirchen am
Würmsee liegt. Wie diese Familie, deren Zusammenhänge
durch die
Überlieferung in jenem Benediktbeuerer Epitaph von einem
Grafen Arnolt
und seinem Sohn Meginhart noch untermauert werden, in ihren
einzelnen Gliedern zu verbinden ist und wie sie mit der Familie
Friedrichs von Haching konkret zusammenhängen, muß
in den letzten
Einzelheiten offenbleiben; die Zusammenhänge an sich, und zwar
zwangsläufig sehr enge agnatische Zusammenhänge, sind
hinreichend
erkennbar.
Es ist ausgeschlossen, daß diese Linie des Hauses die
eigentliche
Hauptlinie darstellt, daß von ihr die Dießener und
die Wasserburger
Linie abstammt und die Linie Friedrichs von Haching sich lediglich in
der 1156 ausgestorbenen Wolfratshauser Linie fortsetzt, wie dies Oefele
annimmt. Die Träger des Namens Arnolt, die jeweils am Anfang
dieser beiden Linien stehen, scheinen dies - bei aller Vorsicht, die
Oefele diesbezüglich im Gegensatz zu Tyroller walten
läßt - zwar nahezulegen; wie aber bereits
angeführt, würde dadurch die
Erbnachfolge des Grafen Berthold von Andechs in Wolfratshausen nahezu
ausgeschlossen, da die beiden Linien des Hauses sich bereits vor der
Jahrtausendwende hätten trennen müssen und mithin der
letzte
gemeinsame Vorfahre der Grafen Berthold von Andechs und Heinrich von
Wolfratshausen nahezu zwei Jahrhunderte vor dem Erbfall hätte
leben
müssen. Ein solcher Vorgang widerspräche allen
Erfahrungen
hochmittelalterlicher Erbgänge, bei denen häufig
durch Erbtöchter
bereits halbe Herrschaften in andere Familien übergingen,
obwohl noch
zweitgradige Vettern des Erblassers im Mannesstamm am Leben gewesen
wären.
Schon die zweifelsfreie Erbschaft im Bereich
des Gilchinger Komitats, die vermutlich die Enkel des Grafen
Friedrich antreten konnten, impliziert eine ziemlich nahe
Verwandtschaft der zeitgleich auftretenden Grafen Friedrich und Arnolt;
Oefele hat sie demgemäß auch als potentielle
Brüder erschlossen, und
von dieser nicht abwegigen These ist es nur ein Schritt zu der
theoretischen Möglichkeit, beide als Söhne des
älteren Grafen
Meginhart im Mangfallkomitat zu betrachten und den Grafen Meginhart
von Reichersbeuern als einen weiteren Bruder der beiden. Den
älteren
Arnolt hätten wir in diesem Fall wohl als einen Bruder des
älteren
Meginhart zu betrachten. Oefele faßt die beiden Arnolte als
eine
Person auf. Das ist aber so gut wie ausgeschlossen, da der
spätestmögliche Zeitpunkt der ersten Nennung 979
nahezu ein
Jahrhundert vor der Nennung des Grafen Meginhart von Gilching liegt, so
daß dieser kaum mehr als sein Sohn, sehr leicht aber als sein
Enkel
angesehen werden kann. Die Identität von Meginhart von
Gilching (1011)
und Meginhart von Reichersbeuern ist hingegen von Oefele richtig
gesehen.
Damit bekämen wir auch eine Erklärung für
den um 1011 belegten
Meginhart von Gilching, der ja den Grafentitel nicht trägt,
und der
weder von Oefele noch von Tyroller befriedigend eingeordnet werden
konnte; Oefele stellt auch die Meginharte als eine Person dar, die
Nennungen 1011 und 1070 sind aber kaum in einen Einklang miteinander zu
bringen, selbst wenn man für die Nennung Meginharts von
Gilching 1011
das für eine Zeugenleistung gerade noch denkbare Alter von 16
Jahren
annimmt. Den 982 als zuständigen Grafen für
Götting genannten Meginhart
unterschlägt Oefele ganz, obwohl der Zusammenhang
unübersehbar ist.
Dieser 1011 genannte Meginhart von Gilching ist aber
höchstwahrscheinlich identisch mit Meginhart von
Reichersbeuern und
nannte sich nur um 1011 deswegen noch nicht Graf, weil er dieses Amt
noch nicht hatte; auch Berthold, der Sohn des Grafen Friedrich von
Haching wird 1024 noch nicht als Graf bezeichnet, die
allgemeine Bezeichnung der Mitglieder des Hauses als Grafen setzt nach
allem Anschein erst nach dem Gewinn des Dießener Erbes ein.
Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß diese
Genealogie nicht mehr als eine Hypothese, man kann ruhig sagen, eine
Spekulation ist. Eine andere Erklärung erscheint mir im
Augenblick
aber nicht denkbar. Die nachweislichen Nachfolgegänge,
insbesondere im
Gilchinger Komitat, erscheinen mir aussagekräftiger als die
Suche
nach Filiationsindizien, die immer wieder nur durch
Namensparallelitäten untermauert werden können, was
auf Grund der
Häufigkeit der meisten Namen wohl immer wieder zu Verwirrungen
führte. Sicherlich stellt dieses Modell noch viele Fragen, in
erster
Linie die, auf welchem Umweg das Dießener Erbe in die Familie
hätte
kommen können; denkbar wäre eine zweite Ehe des
Grafen Friedrich oder
aber eine bereits bestehende Anwartschaft aus einer Ehe eines noch
früheren Vorfahren der drei Grafen. Auch wäre der
rätselhafte
Friedrich Rocho noch unterzubringen; es ist aber auch nicht gesagt,
daß sich mit den hier aufgeführten die Zahl der
Söhne der jeweiligen
Grafen bereits erschöpfte.
Die Hauptlinie, das heißt, die Linie, die die Familie im
Hachinger
Komitat fortsetzte, ist demnach aber nicht die Dießener
Linie,
sondern vielmehr die sich nach Thanning und später nach
Wolfratshausen
nennende. Die Trennung dieser beiden Linien erfolgte augenscheinlich
wohl schon vor 1070, da sich in der oftzitierten Freisinger Urkunde
Graf Arnolt nach Dießen, Graf Otto aber nach Thanning nennt;
die
Nachkommen Ottos führen die Bezeichnung nach Dießen
nicht mehr, sie nennen sich nach ihrer Burg Amras im Inntal und
nach 1120 nach Wolfratshausen. Ihr Anteil bestand wohl in den
Gütern im
Hachinger Komitat - wo die Dießen/Andechser Linie in der Tat
erst nach 1157 als Schenker auftritt, ältere Besitzungen der
Gesamtfamilie aber nachweisbar
sind - und den Tiroler Allodien, daneben behielten auch sie einige
Güter um die Burg Dießen, die sie aber
möglicherweise bereits
unmittelbar beim Anfall des Erbes erhalten hatten. Sie behielten
auch die gräflichen Rechte im Hachinger Komitat.
Die erfolgreichere war aber sicherlich die Dießener
Linie, die nicht nur die Wolfratshausener Linie überlebte,
sondern auch
die Wasserburger Linie hervorbrachte, die die Hallgrafschaft
innehatte und offensichtlich den Komitat am Inn übernahm. Auch
dieser Umstand beweist, daß die nachfolgenden
Dießener Grafen nicht
von dem 1017 belegten Graf Arnolt, sondern von Graf Friedrich
abstammten, der diesen Komitat nachweislich 1024 innehatte.
Daß sich
die Wasserburger Linie erst nach dem Dießener Erbfall von der
Dießener
Linie abspaltete, ist allein deswegen zwingend notwendig, weil die
Grafen von Wasserburg über Besitz in der Umgebung von
Dießen
verfügten, den sie an dieses Kloster, dem sie sich anscheinend
durchaus
familiär verpflichtet fühlten, tradierten.
Eine strittige Frage ist die Identität zwischen dem Grafen
Arnolt von
Dießen und dem sowohl gleichnamigen als auch gleichzeitigen
Hallgrafen
bzw. Grafen am Inn. T. Burkard hat sich zuletzt mit dieser Frage
beschäftigt und entschloß sich nach Prüfung
der verschiedenen Theorien
dazu, Tyroller hinsichtlich der Identität der beiden zu
folgen. Nach
den vorangegangenen Ausführungen müssen wir uns ihr
anschließen. Die
Teilung der hallgräflichen Linie, die sich später
nach Wasserburg
nennen sollte, und der Linie Dießen erfolgte wohl erst unter
seinen
Söhnen; die Hallgrafen erhielten neben diesem Amt dabei den
Innkomitat,
den größten Teil der Besitzungen am Inn und einige
Besitzungen
längs der Mangfall. Einige Güter östlich des
Inns behielt sich die
Dießener Linie anscheinend vor, aus welchen Gründen,
wissen wir nicht,
doch folgten sie damit einem Gebrauch, der den hochmittelalterlichen
Dynastenfamilien allgemein zu eigen ist. Umgekehrt behielt die
hallgräfliche Linie, wie schon ausgeführt, einige
Güter westlich des
Ammersees. Graf Gebhard, der wohl der erste Hallgraf nach der Teilung
ist, führt die eine Generation zuvor noch allen Mitgliedern
des
Hauses gemeinsame Bezeichnung nach der Burg Dießen nicht
mehr. Die
Trennung war endgültig, die Grafschaft am Inn kam nie wieder
an die
Hauptlinie zurück.
Diese Teilung war die letzte in der Geschichte des Hauses bis in das
dreizehnte Jahrhundert, als nach dem Tod ihres Vaters Berthold, nach
der Zählung Oefeles Bertholds IV., Otto und Heinrich ihre
Besitzungen
teilten und Otto den Herzogstitel sowie augenscheinlich Andechs,
Heinrich die Markgrafschaft Istrien, Neuburg und Schärding
sowie
Wolfratshausen erhielt. Da Heinrich, durch seine fälschliche
Verstrickung in den Bamberger Königsrnord die
unglücklichste Figur
der ganzen Familiengeschichte, kinderlos blieb, kam diese Teilung nicht
mehr weiter zum Tragen. Aber auch die Tatsache einer über
hundert Jahre
währenden Kontinuität der Besitzgeschichte ist
bemerkenswert; die
meisten der bayerischen Dynastengeschlechter, sofern ihre
Besitzungen umfangreich genug waren, teilten sich noch weit in das
zwölfte Jahrhundert hinein immer
wieder, die Wittelsbacher - allerdings wohl bedingt durch
persönliche
Zugewinne des ersten Dachauers - zuerst in die Linien Scheyern und
Dachau, diese
später wieder in die Linien Valley und Dachau, die
Kraiburg/Ortenburger teilten sich ebenfalls in drei Linien. Die
Erwerbungen der Dießener Linie, die sie in den folgenden
hundert Jahren
machte, kamen hingegen alle der Stammlinie zu Gute und wurden
zusammengehalten, obwohl es im zwölften Jahrhundert der
Familie
wahrlich nicht an nachgeborenen männlichen Mitgliedern
mangelte.
Diese Besitzpolitik des Zusammenhaltens ist umso
ungewöhnlicher, als
im Laufe der folgenden hundert Jahre nach der Abspaltung der
hallgräflichen Linie sich nicht nur die Macht im
südwestlichen
Oberbayern
praktisch allein in ihrer Hand konzentrieren sollte, sondern die
Macht der Andechser sich nach Niederbayern und Tirol ausdehnen sollte
und schließlich mit der Grafschaft in Franken, der
Markgrafschaft
Istrien und den Besitzungen in Krain auch noch weit über
Bayern
hinausreichen sollte. Nichts von alledem gab die Dießener
Linie jemals
wieder aus der Hand; seit dem Beginn des zwölften Jahrhunderts
strebte
dieser Zweig der Familie offensichtlich in einer bemerkenswerten
Konsequenz nach höheren Ehren.
Sie betrachtete sich inzwischen offensichtlich als die Hauptlinie des
Hauses. Ob sie dies infolge eines genealogischen Vorrechts tat, also
weil möglicherweise bei der Trennung der Dießener
und der
Wolfratshausener Linie ihr Stammvater Arnolt, was man nur annehmen
kann, der Ältere war, oder aber einfach auf Grund der
Tatsache, daß sie
um 1100 sowohl die Wolfratshausener als auch die Hallgrafen an Macht
und Bedeutung längst überflügelt hatte, mag
dahingestellt bleiben. Es
ist dabei überhaupt zu fragen, inwiefern man solche
Gedankengänge
einer genealogischen Majorität, die ja eigentlich die Linie
Wolfratshausen beanspruchen hätte müssen, den
Adeligen des elften
Jahrhunderts überhaupt bereits unterstellen kann; ungeachtet
dessen
aber ergab sich die Majorität der Dießener auch aus
den realen
Gegebenheiten. Die Macht der Hachinger Linie beschränkte sich
auf den
Komitat um Haching und die Besitzungen im Inntal, die
Dießener aber
waren hingegen bereits eine regionale Großmacht; sie hatten
um 1100
inzwischen drei Komitate inne, beherrschten Oberbayern von der Isar bis
zum Lech und vom Alpenrand bis zum Raum nördlich der beiden
Seen,
hatten die Vogtei eines begüterten Reichsklosters inne. Sie
waren
bereits
stark genug, um die Welfen am nördlichen Lechrain in Schach zu
halten
und an ihrer Nordgrenze den ausgreifenden Wittelsbachern und deren
Nebenlinie, den Dachauern, Einhalt zu gebieten und ungeachtet der
Besitzrechte dieser aufstrebenden Genealogie ihre gräflichen
Rechte doch weitgehend in den überkommenen Grenzen zu wahren.
Entscheidender als dies alles ist für den Charakter der Linie
Dießen als Hauptlinie etwas anderes: In ihrem Machtbereich
lag das
eigentliche Familienzentrum Dießen. Im engeren Umkreis um
diese Burg
lagen die Besitzungen, die sich unabhängig von den Macht- und
Besitzräumen, die sie im einzelnen innehatten, alle Linien des
Haues
teilten. Dieses Familienzentrum, welche ideelle Funktion es
für den
Zusammenhalt der Familienzweige auch immer haben mochte, war, wie wir
sahen, neu, war erst auf dem Erbwege in den Besitz der Nachkommen
Friedrichs von Haching gekommen, aber dies hat nichts zu besagen; auch
die Kraiburger schufen sich erst mit dem Erbe der Uta von Passau ihr
bayerisches Familienzentrum, auch Scheyern war ein ererbter Besitz
des Freisinger Hochstiftsvogtes Otto. Es ist nur folgerichtig,
daß hier
ebenfalls das Familienkloster entstand, zugleich ein Zeichen
dafür,
daß man die erste Gründung eines Klosters in Attel
inzwischen als das
Familienkloster der Hallgrafen betrachtete; Attel lag überdies
zur
Gründungszeit Dießens noch darnieder. Als
Familienkloster wurde
Dießen betrachtet; alle Familienzweige beteiligten sich in
den
folgenden Jahrzehnten an der Ausstattung des Klosters, selbst die
Mitglieder des Hauses, die auf Bischofsstühlen saßen
und als die
Wolfratshausener Linie ausstarb, fiel ein großer Teil ihrer
Besitzungen, nun auch außerhalb des gemeinsamen
Besitzzentrums um
Dießen, an das Kloster. Dießen blieb bis zum Ende
des Hauses das
geistige Zentrum. Mit dieser Gründung war die Dynastie
endgültig
installiert. Diese Verlagerung des Hauptgewichts auf die Linie
Dießen-Andechs zeigt den Wandel von der alten
Komitatsstruktur zur
modernen Grafschaftsstruktur des hohen Mittelalters; die alte
Komitatsgewalt der Hachinger
Linie hatte gegenüber der vielfältigen
Herrschaftsgewalt der
Dießener nicht mehr das entscheidende Gewicht.
Dies ist bis zum heutigen Tage zu spüren; der Begriff der
"Andechser" ist immer noch, auch in der Diskussion unter Fachleuten,
der Terminus, unter dem die Familie zusammengefaßt wird, von
Graf
Arnolt bis zum letzten Vertreter, dem Herzog Otto von Meranien, der
weit entfernt von seiner Burg Andechs, in Oberbayern aller Rechte und
Herrschaften bereits ledig, 1248 auf der Burg Niesten in Franken starb.
In gewisser Hinsicht besteht der Terminus, obwohl er nicht einmal ein
Jahrhundert der Familie - und davon nur zweieinhalb Jahrzehnte lang
ausschließlich!
als Name diente, zu Recht; was die Familie im hochmittelalterlichen
Bayern war, wurde in den Jahren geschaffen, in denen sich ihre
Vertreter nach der Burg Andechs nannten. Es waren, noch einmal sei es
wiederholt, die Jahre, in denen die Grundlagen für den
bayerischen Staat des Mittelalters gelegt wurden - und die
Andechser waren mit die wichtigsten, die dabei mitwirkten. Sie
wußten es zwar nicht aber dies schmälert
ihre Bedeutung in keiner Weise.
Quelle: Die Grafschaft der Andechser,
Comitatus und Grafschaft in Bayern 1000-1180, Historischer
Atlas von Bayern, Teil Altbayern, Reihe II Heft 4, von Ludwig
Holzfurtner, München 1994, (S. 377-391) Änderungsstand: 20-Nov-2012 17:10