Anlage 8
Flucht und Vertreibung aus Schlesien

Ein Abschied für immer, Der Zirkwitzer Treck, Elisabeth Sboron, Bad Salzuflen
                                                                                                                       
                                                                                                                                                  i
Es sind nun 46 Jahre vergangen, seitdem die Zirkwitzer aufbrachen, um sich vor der hereinbrechenden Roten Armee in Sicherheit zu bringen. Niemand hat wohl in den bitterkalten Januartagen 1945 geahnt, daß dieser Aufbruch ein Abschied für immer sein wird.

Ich war in diesen Tagen nicht in Zirkwitz, denn in war Krankenschwester im Trebnitzer Lazarett. Deshalb habe ich meine Schwestern Maria Dertwinkel geborene Sboron und Magdalena Steinmann geborene Sboron gebeten, mir ihre Eindrücke von der Flucht zu erzählen. Dabei stellte sich heraus, daß durch die Zeit hinweg doch manche Erinnerungslücken auftraten, die nur mühsam geschlossen werden
konnten. Es ist deshalb sehr notwendig, für unsere Nachkommen das Geschehen jener schicksalhaften Tage wachzuhalten.
                           



Am Sonnabend, den 20. Januar 1945, fingen wir an zu packen, nachdem immer mehr Trecks unser Dorf passierten. Uns wurde klar, daß auch wir nicht werden bleiben können. Zuerst wurden die Wertsachen (Kristall und Silbersachen) vergraben. Dann wurde alles gepackt, was zum Leben notwendig war. Zuerst mußte man an warme Bekleidung denken.  Dann waren die Wäsche und die Verpflegung einzupacken. Das geschah immer noch in dem Glauben, daß wir nur für einige Wochen werden Zirkwitz verlassen müssen.
                                                                                                                             

Die letzten Männer mußten noch zum Volkssturm. Jeder, der nicht seinen Kopf unter dem Arm trug, mußte sich einfinden. Unter den Volkssturmmännern war auch Herr Georg Thiel, der unseren Vater  bat, sich um dessen Familie zu kümmern, er könne dafür auch Gepäck auf dem Thielschen Wagen unterbringen. Auch Familie Krautwald brachte ihre Sachen zu Thiel. Wer keinen eigenen Wagen hatte, versuchte seine Sachen auf andere Wagen zu verteilen. Manche Flüchtlinge holten sich auch auf dem Dominium ein  Ochsengespann, nachdem die Evakuierung von Zirwwitz parteiamtlich bekanntgegeben worden war.

Die Frauen mit Kindern verließen Zirkwitz schon am Sonnabend. Sie fuhren mit dem Trecker vom  Dominium und einigen Wagen, die die Bauern stellen mußten, in Richtung auf Bayern.

Der Bürgermeister Wuttke verließ Zirkwitz ebenfalls am Sonnabend. 
                                                                                                                                         

Die anderen Zirkwitzer wollten noch abwarten, was geschehen werde, wer verläßt schon seine angestammte Heimat gern, um ein ungewisses Schicksal sich aufzuladen.  Die Ratlosigkeit wuchs von Stunde zu Stunde.

Nur wenige Gläubige besuchten am Sonntagmorgen den Gottesdienst. Pfarrer Niechoy bat die Anwesenden allen Verbliebenen zu sagen, 
man solle sich umgehend in der Kirche treffen, um miteinander  zu beraten und um gemeinsam Gottes Segen zu empfanger. Dabei beschloß man, erst am Montag aufzubrechen.

Gegen Abend kamen Soldaten der Waffen-SS ins Dorf und forderten zum sofortigen Aufbruch. Sie drohten mit dem sofortigen Abtransport auf Lastkraftwagen.

So fing man an, sich zu sammeln. Bald nach 22,00 Uhr setzte sich der traurige Zug bei strenger Kälte in Bewegung. Kantor Wielsch und Pfarrer Niechoy übernahmen die Treckleitung. Vor dem Aufbruch wurden noch alle Stalltüren geöffnet und das Vieh von seinen Ketten losgebunden.

Alte und Kranke, wurden - soweit das möglich war - auf den Wagen befördert, alle anderen mußten laufen.

Schon in dieser Nacht traf der Treck auf die ersten Toten. Ein alter Mann saß halb erstarrt mitten auf der Straße. Er wurde an den Straßengraben gesetzt. Es war nicht festzustellen, ob er noch lebte oder ob er schon verstorben war. Auf den Wagen war jedoch kein Platz mehr, und jeder hatte mit sich zu tun
- die Kriegsfurie verdrängte auch jede Menschlichkeit. Jeder dachte nur an sich,  jeder wollte der Apokalypse entrinnen, denn was man von den Greueltaten der Sowjets gehört hatte, ließ jedem das Blut in den Adern erstarren.

Der Treck zog über Trebnitz, Obernigk bis nach Riemberg. Dort wurde 
ZUm ersten Male Halt gemacht, in Scheunen war man untergebracht. Die Bewohner hatten den Ort schon verlassen, so daß man in ein paar notdürftig hergerichteten Zimmern die Alten und Kranken unterbringen konnte.

Als mein Vater in der Scheune, die er sich zum Übernachten ausgesucht hatte, zu deutschen Soldaten sprach, die er entdeckt hatte, meldeten sich einige Gänse. Vater wußte sofort, daß das seine Gänse aus Zirkwitz waren, die ihn erkannt hatten. Die Soldaten bestätgten auch, die Gänse in Zirkwitz zu sich genommen zu baben.

Meine Schwestern könnenl sich im einzelnen nicht mehr an die Orte erinnern, die der Treck auf seiner Fluchtweg durchquerte. Die Namen der Orte in Erinnerung zu rufen, das wird wohl nur dann möglich sein,  wenn sich andere Treckteilnehmer mit ihren Erinnerungen melden, denen diese oder jene Begebenheit im Gedächtnis haften geblieben ist.

Von Riemberg aus zog der Treck bei Dyherrnfurth über die Oder, dann weiter gen Westen bis nach Pombsen im Kreise Jauer, wo man am 31. Januar bei 18 Grad Kälte ankam. Dort blieb man fast 10 Tage lang. Bis dahin war der Treck auch noch geschlossen.
                                                                                                                                 

Als man dann weitertreckte in den Kreis Goldberg hinein, wurde der Treck durch eine durchfahrende Militärkolonne auseinander getrennt. Den Vortreck führte Herr Wielsch, im Nachtreck war Pfarrer Niechoy, sein Vorankomme ,wurde immer wieder dadurch beeinträchtigt, daß die Ochsengespanne nicht schnell genug voran kamen.

Meine Schwester Magda war beim Nachtreck, sie wachte darüher, daß unsere Sachen auf dem Wielschen Wagen nicht abgeladen werden konnten, denn es kam mitunter schon vor, daß Gespanne für den Treck erleichterl wurden.  Magda hat ihre Aufgabe gut gelöst, obwohl sie kaum 17 Jahre
alt war. Durch Vermitt lung von Regina Tripke war meine Mutter im Planwagen (Planenwagen) von Paul Tripke untergekommen, weil sie auf dem offenen Thielschen Wagen in der ersten Fluchtnacht fast erfroren war und immer noch fieberte. Bei diesem Wagen hielten sich unser Vater und meine Schwester Maria auf.

Herr Wielsch wartete immer auf den zweiten Teil des Zirkwitzer Trecks, denn durch andere Trecks und viele Militärkolonnen war das Chaos auf dem Fluchtweg vollkommen. Herr Wielsch wollte die Verbindung durch
einen Fahrradmelder wiederherstellen. Der Nachtreck kam und kam nämlich nicht.

Es ist nicht mehr festzustellen, ob Pfarrer Niechoy andere Weisungen erhalten hatte oder ob der Meinung war, auf dem richtigen Fluchtweg zu sein. Herr Wielsch wurde von seinen Treckleuten gedrängt, die Flucht fortzusetzen, denn der Gefechtslärm der Front war bedenklich näher gerückt.

Kurz vor Goldberg kam dem Nachtreck ein Militärauto entgegen. Aus ihm rief Hubert Waloszczyk beängstigend Herrn Niechoy zu, er möge sofort wenden, denn seine Fluchtrichtung führe direkt in die Arme der Russen. Der Treck wendete, was bei schwierigsten Bedingungen vorgenommen werden mußte und viel Zeit kostete. So sind beide Trecks endgültig getrennt worden.

Unser Treckteil unter Pfarrer Niechoy zog allein weiter gen Westen und erreichte im Kreise Löwenberg die Orte LiebenthaI, Greiffenberg sowie am 13.2.45 Neundorf. Am nächsten Tage ging es durch den Kreis Lauban hindurch ins Sudetenland. Unser Ziel war Bayern zu erreichen. Am 26.2. wurde Radowitz im Bereich Kaaden erreicht. Durch das Egertal entlang kam man am 6. März in Mayerhofen - kurz vor Karlsbad - an.

Ein Weiterfahren nach Bayern wurde verwehrt, denn Bayern sei überfüllt, so lautete es.  In Mayerhofen fand der Treck eine Bleibe bis nach dem Waffenstillstand.  Die Versorgung mit Lebensmitteln war schlecht, die Tschechen sabotierten jede Verpflegungsausgabe, obwohl die Lager bis unter die
Decken mit den Notwendigsten aufgefüllt waren.

Pfarrer Niechoy fuhr inzwischen von Kommandantur zu Kommandantur, um den Aufenthaltsort des anderen Treckteils zu erfahren. Am 3.Tage hatte er schließlich Erfolg. Herr Wielsch landete mit seinen Leuten in Franzensbad.

Magda fuhr dann nach Franzensbad und holte die Eltern nach Mayerhofen, denn in Franzensbad hatten sie nichts, nicht einmal Wäsche zum wechseln. Beide Treckteile kamen jedoch nicht mehr zusammen.

Nach dem Waffenstillstand haben die Tschechen die Flüchtlinge des Landes verwiesen. Am 20. Mai wurde die Rückreise in die Heimat  angetreten und unbehelligt konnte das tschechische Gebiet verlassen werden.  Manche Trecks sind dabei in die Hände rachegieriger Tschechen gefallen, sie wissen ein bitteres Lied zu singen. Der Treck des Pfarrers muß einen besonderen Schutzengel gehabt haben. Über Dresden, Bautzen und Löbau kam man im Kreis Görlitz im Ort Friedersdorf an. Hier, unweit der Neiße, das Heimatland vor den Augen, wurde der Treck angehalten, weil die Polen die Grenze für jegliche Einreisen gesperrt hatten. lm Nachbarort Deutsch-Paulsdorf fanden die  Zirkwitzer am 3. Juni 1945 eine Bleibe. lm Dorf und auf dem Dominium hatten sie für's erste ein Dach über dem Kopf.

Nach einiger Zeit mußten einige Familien Deutsch-Paulsdorf verlassen.  Daselbst blieben die Familien Paul Janig, Georg Thiel, Alois Tripke, Sattler Scholz und Thomas Sboron.  Es mußten übersiedeln: nach Finsterwalde bei Kottbus: Müller Scholz, CIemens  Mirke, Mirke (Ströhof), Koschnicke und Waloszczyk, nach Nostitz nördlich Löbau die Familien Kunze, Hein, Giesel, Tripke Paul sen,  Hentschel, Zisko  und Tripke Josef. Kaufmann Kluge kam nach Luckenwalde, Gastwirt Adolf Stiller fand in Friedeberg a.d. Saale eine Bleibe, Familie Kitsche  in Putzkau, Krs. Bautzen, Paul Schädel in Biesnitz bei Görlitz (Altersheim).

So hat die Flucht die Zirkwitzer in alle Himmelsrichtungen verstreut. Die Leute vom Vortreck unter Kantor Wielsch kamen in Bayern ins Reichsgebiet.

In Deutsch-Paulsdorf lebten auch einige Familien aus Sendtitz. Meine Schwestern wissen nicht mehr, welches Schicksal sie dorthin verschlagen hat.

Als die Deutsch-Paulsdorfer Gutsbesitzerfamilie (von Falois) enteignet und vertrieben wurde, bekamen Flüchtlinge, die daheim Grundbesitzer waren, eine NeubauernsteIle zugeteilt. Bei Null mußten sie anfangen, aber sie haben es geschafft
- bis das kommunistische Regime sie zum Beitritt in eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft zwang.


Diesen bitteren Weg brauchten meine Eltern nicht zu gehen, denn wir hatten sie bei einer Nacht- und Nebelaktion vorher in den Westen geschleust, Gott sei Dank noch vor dem nau der Mauer.

Unser Vater war zunächst nicht dazu zu bewegen, wieder alles aufzugeben. Man glaubte ja immer noch an die Gerechtigkeit in dieser Welt und wollte sich für eine Rückkehr nach Zirkwitz bereithalten. So nahe an Schlesien glaubte man wenigstens einen Grundbestand an Vieh mit nach Hause nehmen zu können, um so einen leichteren Anfang zu finden.

Vater hatte das ihm auferlegte Soll zwar erfüllt, aber von den "freien Spitzen" einige Kartoffeln schwarz verkauft - dafür wurde er eingesperrt. Mutter schickte mir ein Telegramm. Ich fuhr nach
 Deutsch-Paulsdorf mit Hilfe des damaligen Bürgermeisters (CDU) und eines  Rechtsanwalts,  der ebenfalls der CDU angehörte, gelang es uns gemeinsam, unseren Vater loszueisen. Nun war für ihn auch klar, daß er nicht mehr länger bleiben wollte.



Ich selbst bin mit dem Trebnitzer Lazarett auf die Flucht gegangen. Unterwegs habe ich immer wieder bei den Kommandanturen nach dem
Verbleib des Zirkwitzer Trecks geforscht. Mir wurde mehrmals versichert, daß der Treck Tage zuvor durchgekommen sei.

In einem Gasthaus traf ich Herrn Kirsche und Herrn Rathsmann. Von denen erfuhr ich, daß der Zirkwitzer Treck während der Flucht auseinander gerissen worden sei und jetzt an verschiedenen Stellen untergebracht worden war.
 
Der Weg des Trebnitzer Lazaretts ist ein kleines bißchen angelehnt an den Weg, den der Zirkwitzer Treck genommen hat:
Kauder, Kreis Schweidnitz
Reibnitz bei Hirschberg
Ostritz bei Görlitz
Raspenau-Wildemann
Friedersdorf
Langburkersdorf, Kreis Pirna
Ottendorf, Post Friedrichswalde
Altendorf, Kreis Pirna
Niederbobritzsch, Kreis Freiberg 
Langenstriegis über Frankenberg
Wittgendorf bei Chemnitz.
Ebersbrunn, Kreis Zwickau
Hartmannsgrün, Kreis Zwickau
Schollenreuth bei Hof.

                                 

Nach Bayern hinein führte kein Weg mehr, so daß wir in Bad Brückenau seßhaft werden sollten.

Dort verließ ich den Trebnitzer Treck, denn unsere Abteilung gehörte zum Kieferlazarett Breslau, das in Mindelheim/Schwaben untergek
ommen war.

M
eine ältere Schwester war 1946 aus Zadel, Kreis Frankenstein, von den Polen ausgewiesen worden. Sie hatte in Bad Salzuflen  unterkommen können. Meine beiden Brüder ließen sich aus Gefangenschaft dorthin entlassen. Allmählich hat sich unsere Familie dort sammeln können, bis wir nach und nach alle wieder vereint waren.


zurück zur Übersicht

Quelle: Unser Heimatort Zirkwitz Kreis Trebnitz in Schlesien in zeitgeschichtlicher Darstellung zur Erinnerung und zum Gedenken an die verlorene Heimat Heft 1 und 2 von Maximilian Stiller (Hannover) und Walter Klein (Rheinau-Holzhausen). 1991
erfasst von Heinz Wember
Änderungstand: 28-Mai-2007 11:30 (02-Feb-2009)


Heinz Wember Augsburg